Frankreich: Fahrzeiten des Außendienstmitarbeiters zwischen Wohnort und dem Standort des ersten und des letzten Kunden. Das französische Kassationsgericht passt sich der Rechtsprechung des EuGH an.

Seit langer Zeit sorgt die Frage „Ist Fahrzeit gleich Arbeitszeit?“ im französischen Arbeitsrecht für andauernde Diskussionen.

Im Tyco-Urteil aus dem Jahr 2015 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) nach Artikel 2 der Richtlinie 2003/88 vom 4. November 2003, festgestellt dass, „die Fahrzeit, die Arbeitnehmer, die keinen festen oder gewöhnlichen Arbeitsort haben, für die täglichen Fahrten zwischen ihrem Wohnort und dem Standort des ersten und des letzten von ihrem Arbeitgeber bestimmten Kunden aufwenden, Arbeitszeit im Sinne dieser Richtlinie darstellt“ (EuGH, 10.09.2015, C-266/14, Tyco).

Nichtdestotrotz war das französische Kassationsgericht bislang der Ansicht, dass in Fällen, in denen die Fahrzeit zwischen Wohnung und gewöhnlichem Arbeitsort die normale Fahrzeit überschreitet, eine Einordnung als Arbeitszeit nicht gerechtfertigt ist und ein Anspruch auf die Vergütung von Überstunden nicht besteht, soweit der Arbeitnehmer von den in Artikel L. 3121-4 des Arbeitsgesetzbuchs vorgesehenen Entschädigungen profitieren konnte (Cass. soc., 30.05.2018, Nr. 16-20.634).

In seinem Urteil vom 23.11.2022 vollzieht das französische Kassationsgericht unter dem Druck des europäischen Rechts eine Kehrtwende in seiner Rechtsprechung und nimmt eine europarechtskonforme Auslegung des französischen Arbeitsrechts vor.

Das französische Kassationsgericht hat entschieden, dass die Fahrzeit eines Außendienstmitarbeiters zwischen seinem Wohnort und den Standorten der ersten und letzten Kunden sog. „effektive“ Arbeitszeit darstellt, wenn der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und sich dessen Anweisungen unterstellt ist, ohne seinen persönlichen Beschäftigungen nachgehen zu können.

Vorliegend nahm der Arbeitnehmer seine üblichen kaufmännischen Aufgaben mithilfe seiner Freisprecheinrichtung während der Fahrten mit dem vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Fahrzeug aus wahr. Er nutzte diese Fahrzeit, um Termine zu vereinbaren und seine Geschäftspartner anzurufen, ohne dass diese Zeiten vergütet wurden.

Der Grad der Abhängigkeit des Arbeitnehmers und des Weisungsrechts des Arbeitgebers während der Fahrzeit reichte hier aus, um die Fahrzeit als „effektive“ Arbeit im Sinne von Artikel L. 3121-1 des französische Arbeitsgesetzbuchs betrachten zu dürfen. Diese Arbeitszeit kann als Überstunden erfasst werden (Cass. soc., 23.11.2022, Nr. 20-21.924 FP-B+R).